Deutungsspielräume öffnen
„Das ist bestimmt was Kulturelles.“ (S. 17)
Es gibt Bücher, mit denen ist man nicht fertig, wenn man die letzte Seite zugeschlagen hat. Geschichten aus der Vorstadt des Universums ist ein solches Buch. Der fiktionale Raum der Vorstädte verortet die Geschichten im Realen und doch zeigt gleich die erste Erzählung, dass Tan sich auch außerhalb unserer Realität bewegt: Stockgestalten, Interkontinentalraketen in jedem Haushalt, Amnesie-Maschinen, Haustiere zum Selbermachen: Ob Bild oder Text den Betrachter in das Buch hineinziehen ist einerlei, geschehen wird es auf jeden Fall. Geschichten aus der Vorstadt des Universums ist ein Buch, das seinen Leser bannt mit seinen poetisch-philosphischen Symbolwelten, in denen Humor und Witz nicht zu kurz kommen.
Der Titel des Buches verbindet 15 kurze Erzählungen miteinander, die von lapidarer Kürze sein, sich aber auch über mehrere Seiten erstrecken können. Jede erhält ganz eigene Abbildungen, und so ist dieses WerkTans auch ein furioses Musterbuch der Bildkunst. Tans Illustrationen wechseln zwischen Collage, Filmbild oder Zeitungsgrafik, er setzt Acryl ein, Bleistift oder Pastell, auch mit dem Computer werden Zeichnungen noch nachbearbeitet. Sie illustrieren nicht, sondern erzählen vielmehr zusätzliche Geschichten und eröffnen weitere Deutungsräume für einen jugendlichen Leser, der mehr über die Geheimnisse erfahren möchte, die die Literatur bereitzuhalten vermag. Manche Geschichten scheinen gar nur im Bild erzählt zu sein, bis man Textfragmente und Textblöcke einer Erzählung entdeckt, die Dirk Rehm mit seinem kunstvollen Lettering für die deutsche Übersetzung gestaltete. In „Ferner Regen“ etwa versteckt Tan den Text in Collagen aus Papierschnitzeln, die vom Schicksal ungelesener Gedichte künden.
Aber auch wenn die Abbildungen den Geschichten zur Seite stehen, verleihen sie dem Erzähltext neue Akzente und versetzten die Sinnsuchmaschine des Lesers durch überraschende Neuigkeiten in den Turbogang, beispielsweise durch scharfe Bild-Text-Kontraste. So gibt er der glänzenden, glitzernden und farbigen Erzählwelt in der Geschichte um einen namenlosen Feiertag eine kühle schwarzweiße Radierung bei. Und umgekehrt begleitet er eine Geschichte über Interkontinentalraketen, die die Regierung zum Schutz in jedem Haushalt postiert, mit einem wasserfarbkastenbunten Bild eines Vorgartenwaldes von lustig bemalten Raketen. Andere Abbildungen führen Leerstellen des Textes aus, erzeugen aber dabei wieder neue Deutungsspielräume. So wie die Visualisierung der Fährnisse, die das Brautpaar in „Opas Geschichte“ ereilen einer augenzwinkernd wiedergegeben Familienlegende.
In Stoff, Plot und Illustration ist jede dieser 15 Geschichten für sich eigenständig und doch sind sie untereinander verbunden durch die besondere Szenerie der Vorstädte. Heute werden ausgelagerte Stadteile in Ballungsräumen so bezeichnet, ursprünglich waren es Stadtgebiete jenseits der Stadtmauern Stadtteile ohne Stadtrechte mit Bürgern ohne Bürgerrechte. In welcher Bedeutung man es auch sehen mag: Mit der Vorstadt als fiktionalen Raum hat Shaun Tan eine ganz eigene Sphäre geschaffen, in der eigene Gesetze gelten.
Jede von Tans Geschichte ist voller Vorausdeutungen, Andeutungen, Ankündigungen und Ahnungen. Man mag die Handlungen, Figuren und Dialoge gar nicht surreal nennen. Besser beschreibt ein Wort wie „paranreal“ ihre Qualität, denn alles, was Tan erzählt, scheint nur einen winzigen Schritt neben unserer wirklichen und doch so skurrilen Realität zu liegen. Wie eine Metapher dafür erscheint es, dass sich in „Kein Land wie dieses“, in jedem Haus ein Innenhof auftut, jedenfalls „wenn man ihn findet“ (S. 61). Zur Entlastung von den unwirtlichen und deprimierenden Lebensbedingungen der Eingewanderten bietet er erholsames Grün, Kühle und Entspannung.
Mit Geschichten aus der Vorstadt des Universums lädt Shaun Tan die Leser ein zur Begegnung mit dem Alltäglichem und mit dem Phantastischem in einer ganz eigenen fiktionalen Welt und zeigt ihnen, wie Literatur „funktioniert“. Eike Schönfeldt hat die poetische Kraft und den freundlich-optimistischen Ton von Tans Texten überzeugend ins Deutsche übertragen und uns die Erzählungen in ihrer ganzen Schönheit zugänglich gemacht.