Rico, der Vergoldete
„Es ist merkwürdig, dass die Leute mit einem nicht so Schlauen praktisch genauso wenig anfangen können wir mit einem nicht so Dummen.“ (S. 202)
Wissen Sie, was „tiefbegabt“ ist? Das ist, wenn einem manchmal „ein paar Sachen aus dem Gehirn fallen und man nie weiß, an welcher Stelle“. So geht es Frederico Doretti, genannt Rico, und dennoch erhält er von seinem Förderschullehrer den Auftrag, ein Ferientagebuch zu schreiben. In Ricos Kopf herrscht zwar ein großes Durcheinander und das Denken dauert bei dem ADS-geplagten Kind lange. Aber ein großartiger Erzähler und ein noch genauerer Beobachter seiner Umwelt ist Rico eben doch.
Er lebt allein mit seiner Mutter, der attraktiven Bardame Tanja Doretti, in der langen und geraden Dieffenbachstraße in Berlin. Denn sich orientieren, rechts oder links abbiegen – das sind für Rico schwer zu bewältigende Hürden, die seine Mutter ihm mit dem Umzug in diese Straße ersparen wollte. Und aus ebenso großer Fürsorglichkeit hat sie ihn ausgestattet mit allem, was ein eingeschränktes Kind zur Abwehr gegen die Häme und Verunsicherungen benötigt, die es von seiner Umwelt zu erwarten hat.
Das perfekte Gegenstück zu diesem neuen kinderliterarischen Heldentypus ist Oskar: klein, ängstlich, bis zum Bersten angefüllt mit Faktenwissen und – „hochbegabt“. Er lebt allein mit seinem Vater, der sich allerdings nicht mal halb so viel aus seinem Sohn zu machen scheint wie Tanja Doretti aus dem ihren. Oskar hat weniger Angst, wenn er mit Rico unterwegs ist. Und Rico freut sich, dass er sich mit Oskar an seiner Seite nicht verirren kann. Glasklar: Gemeinsam sind die beiden unschlagbar. Und beide wollen den so genannten ALDI-Kidnapper stellen – ein Kindesentführer, der wegen der preisgünstigen Lösegeldforderung von 2.000 Euro dieses Discounter-Label erhalten hat. Peter Schössow hat den beiden kindlichen Helden mit wenigen Strichen eine Optik gegeben, die perfekt zum Roman passt.
Doch der Krimi ist lediglich gut gemachtes, amüsantes Beiwerk, nicht das Zentrum des Romans. Die Milieuschilderungen sind es, die Steinhöfels Roman so besonders machen und die Figuren, mit denen er seine Geschichte bevölkert.
Und diese Figuren konstruiert Steinhöfel unschlagbar treffsicher und mithilfe des Kunstgriffs, ein Mietshaus als Mikrokosmos zu wählen – dieser Aktionsraum kommt auch Ricos eingeschränktem Bewegungsradius zugute. Jede Person aus diesem Haus, und mag ihre Rolle noch so klein sein, ist plastisch gezeichnet, eigen und unverwechselbar. Wir sehen sie vor uns, die von Depressionen geplagte Nachbarin Frau Dahling, eine Fleischfachverkäuferin in der Blüte ihrer Midlife-Crisis und mit einer Freundlichkeit Rico gegenüber, an die ihr Name (Dahling – Darling) zu Recht erinnert. Oder Ricos Mutter, die Steinhöfel in an sich wenigen Sätzen und dennoch vollendet lebensecht und anschaulich durch Ricos Augen schildert. Und schließlich Rico selbst: Er ist tiefbegabt, ja. Er hat ADS, ja. Aber er ist selbstbewusst, wissbegierig (sogar ein eigenes Wörterbuch führt er), nachdenklich – auch wenn das manchmal dauert – und kann sein Leben sehr gut meistern. Freundlich ist er überdies und mit einem so goldenen Gemüt versehen, wie sein Nachname verheißt.
Mithilfe von Ricos Erzählstimme gelingt Steinhöfel eine ganz besondere Milieuschilderung, die weder diskriminierend gegenüber den Figuren, noch überfürsorglich pädagogisierend gegenüber seinen jungen Lesern ist, sondern einfach nur treffend und liebevoll. Wenn sein Mutter fragt „Schon was gegessen, ein Döner oder so?“ (S. 19) wird unmittelbar deutlich, in welcher Sphäre Rico lebt. Logisch, hier kommen zu Hause Fischstäbchen und Ketchup auf den Tisch – von Äpfeln oder Joghurt keine Spur, sogar im Müsli ist Zucker.
Wie differenziert Steinhöfel Milieus schildert, fällt spätestens auf, als Rico Sophia besucht – das ist eine ganz andere Welt als die flapsig-fürsorgliche und zugewandte in Ricos Zuhause: Armut in jedem Kubikzentimeter der Wohnung, Sprachlosigkeit und Einsamkeit. Rico lässt den Leser an seinem Mitleid lebhaft und auf eine Weise teilhaben, die auch Kindern zugänglich macht, was es heißen könnte, in Sophias Welt zu leben.
Steinhöfels Sprache schließlich vereint Figurendarstellung und Milieuschilderung zu einem modernen Sozialroman für Kinder. Um aus der Perspektive Ricos erzählen zu können, schafft er ein umfassendes und sprachschöpferisch ausgeklügeltes Vokabular für dessen Weltwahrnehmung. Ohne Beschönigung taucht Steinhöfel ein in Ricos innere und äußere Welt, eröffnet uns einen neue kinderliterarische Maßstäbe setzenden Kosmos und legt so einen Roman für Kinder vor, der in Figurenzeichnung, Plotgestaltung, sprachlicher Gestaltung und Aussage nichts zu wünschen übrig lässt – eben ein Roman eines ganz und gar nicht tiefbegabten Autors.