Samuel Tillerman, der Läufer
Cynthia Voigt (Text),
Matthias Duderstadt (Übersetzung)
Jurybegründung
„Geländelauf war sowieso mörderisch, aber gerade das gefiel Bullet...Irgendwo zwischen dem zwölften und dreizehnten Kilometer begann er zu spüren, was seine Muskeln leisteten. Von diesem Punkt an baute er nur noch auf Kraft, lief mit gleichmäßigen Schritten weiter und kümmerte sich einfach nicht um das, was sein Körper ihm zu signalisieren suchte..." Der junge Mann, der hier im Langstreckentraining gegen sch selbst antritt, hat anderes...
„Geländelauf war sowieso mörderisch, aber gerade das gefiel Bullet...Irgendwo zwischen dem zwölften und dreizehnten Kilometer begann er zu spüren, was seine Muskeln leisteten. Von diesem Punkt an baute er nur noch auf Kraft, lief mit gleichmäßigen Schritten weiter und kümmerte sich einfach nicht um das, was sein Körper ihm zu signalisieren suchte..." Der junge Mann, der hier im Langstreckentraining gegen sch selbst antritt, hat anderes niederzukämpfen als die körperliche Erschöpfung. Nach und nach wird dem Lesenden deutlich, dass Bullet das Laufen braucht, um ein Gefühl der Befreiung zu erreichen, ein Gefühl der Stärke, der Unbesiegbarkeit, der Übereinstimmung mit sich selbst. Es geht Bullet nicht um den Sieg, die Bewunderung der Mitschüler. Er läuft um des Laufens willen in einem elementaren, existentiellen Sinn. Bullet, im Kampf mit einem übermächtigen, tyrannischen Vater, steckt mitten in einer Ablösungskrise. Dieser Vater weicht jeder offenen Konfrontation aus. Man kann ihm nur widerstehen, indem man sich unverletzlich macht, Gefühle nicht zulässt, eine Mauer errichtet zwischen sich und der Außenwelt. Das ist jedenfalls die Maxime, die Bullet sich für das Erwachsen-Werden zurechtgelegt hat: Nur zu seiner Mutter hat er eine zwar sprachlose, aber starke emotionale Beziehung. Die Mutter ist in sich erstarrt, störrisch und stolz. Sie leidet wie ihre Kinder, aber sie solidarisiert sich nicht mit ihnen. Den Kampf ihres Sohnes mit dem Vater erträgt sie stumm. Als Bullet schließlich erkennt, dass er in seinem Egozentrismus dem Vater zum Verwechseln ähnlich geworden ist, beschließt er, das Elternhaus zu verlassen. Cynthia Voigt zeichnet mit dem Porträt des Samuel Tillerman eine Person, die tief beschädigt ist. Bullets Überlegenheit, seine planmäßig errungene Stärke sind teuer erkauft durch die Unterdrückung von Gefühlen. Das Provozierende an diesem Jugendroman ist, dass er keine geläufige Entwicklungsgeschichte anbietet, dass er den harmonischen Schluss verweigert und damit zur Auseinandersetzung zwingt. Nach der Schulzeit geht Bullet zur Armee und fällt in Vietnam. Dieser Jugendliche mit seinem Kult der Kälte eignet sich nicht zur Identifikation. Die Kunst der psychologischen Charakterzeichnung lässt ihn einerseits faszinierend, andererseits auch sperrig, ja abstoßend erscheinen. Er beansprucht unser Mitgefühl und hält uns dennoch auf Distanz. In diesem Sinne ist er eine moderne literarische Figur.