Taube Klara
Wolf Spillner (Text)
Jurybegründung
Eine Taube gehört nicht in die Küche. Das meint zumindest Hannes Mutter. Sie streitet sich darüber mit ihrer Schwiegermutter, die nach dem Tod des Großvaters seine Taubenzucht aufgeben musste, seiner Lieblingstaube Klara aber einen kleinen Platz in der Küche einräumt. Während des Weihnachtsbesuchs bei der Großmutter in einem kleinen Dorf in Mecklenburg beobachtet der etwa zehnjährige Hannes die Konflikte zwischen Mutter und Großmutter. Sie haben...
Eine Taube gehört nicht in die Küche. Das meint zumindest Hannes Mutter. Sie streitet sich darüber mit ihrer Schwiegermutter, die nach dem Tod des Großvaters seine Taubenzucht aufgeben musste, seiner Lieblingstaube Klara aber einen kleinen Platz in der Küche einräumt. Während des Weihnachtsbesuchs bei der Großmutter in einem kleinen Dorf in Mecklenburg beobachtet der etwa zehnjährige Hannes die Konflikte zwischen Mutter und Großmutter. Sie haben ihren Ausgangspunkt in einem Zerwürfnis der männlichen Familienvertreter, das bis zum Tod des Großvaters nicht beigelegt wurde. Allein Hannes besuchte die Großeltern in den Sommerferien, erlebte einen spröden, aber nach Hannes Empfinden gerechten alten Mann, der ihm handwerkliche Fähigkeiten vermittelte. Jetzt versuchen Mutter und Großmutter sich einander anzunähern. Und wenn sich beide auch einig sind, als es z.B. darum geht, den betrunkenen Nachbarn nach Hause zu bringen, damit er nicht im Schnee erfriert, so bemerkt Hannes doch ihre Vorbehalte und Spannungen, die unterschiedlichen Lebensauffassungen: dass die Großmutter am Heiligabend in die Kirche gehen möchte, kann die Mutter nicht gutheißen. Komfortabler und bequemer soll die Großmutter es haben und mit ihnen in die Stadtwohnung ziehen. Und eben die Taube in der Küche! Hat die Mutter die Taube deshalb umgebracht? Hannes jedenfalls sieht sie am Nachmittag des Heiligabend mit der toten Taube in der Hand auf dem Hof stehen. Die Sicht des Kindes auf Erwachsene, der Einblick in seine zwiespältigen Gefühle zeichnen das Buch aus. Deshalb ist es nur konsequent, daß die Geschichte aus der Perspektive von Hannes erzählt wird. Rückblickende Erinnerungen während der Heimfahrt im Zug nach Berlin beschreiben seine Erfahrungen und lassen seine Suche nach Bewertungen menschlichen Verhaltens, nach Wahrhaftigkeit deutlich werden. Ereignisse im Zugabteil zeigen seine Mutter mutig und aktiv, was ihm ermöglicht, ihre positiven und negativen Seiten zu akzeptieren. Hannes spürt: was für die Mutter falsch und gefährlich ist, kann für die Großmutter durchaus richtig sein. Er erkennt, dass es Räume zwischen „Richtig" und „Falsch" gibt. Der Autor unterstreicht diesen intellektuellen und emotionellen Lernprozess mit bildlichen Vergleichen. Die rückblickende Dramaturgie des Textes unterstützt die Spannung, die sich aus den Konflikten des Jungen ergibt. Die Geschichte über das Miteinander dreier Generationen überzeugt darüber hinaus in ihrer Menschen und Stimmungen sicher und genau charakterisierenden Sprache und in ihrer knappen, geschlossenen Form, wobei gleichwohl Raum und Offenheit für verschiedene Deutungen bleiben.