Magdalene Hanke-Basfeld
Jurybegründung
SONDERPREIS AUTOR 2010
Bereits für ihr Debüt Bitterschokolade erhielt Mirjam Pressler 1980 den Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis. Sie profilierte sich damit als wesentliche Stimme einer antiautoritären Jugendliteratur. Es folgten Romane, die heute zu den Klassikern zu zählen sind und deren „beschädigte Kindheiten“ ihre Aktualität und Brisanz behalten haben.
Neben ihrem Engagement als Übersetzerin und damit als „Botschafterin“ einer internationalen Jugendliteratur entwickelte Mirjam Pressler ein breites Oeuvre, das Bilderbuchtexte und altersübergreifende belletristische Romane umfasst.
Mit Beginn der 90er Jahre erweiterte die Autorin ihren Blick auf jüdische Kindheiten während des Holocaust in Europa. Insbesondere im Leben und Werk der Anne Frank fand sie eine generationsübergreifende Symbolfigur. Die Beschäftigung mit ihren Tagebüchern und die Herausgabe der Briefe aus dem Familienumfeld (Grüße und Küsse an alle, S. Fischer 2009) half, Anne Frank der heutigen Lesergeneration nahe zu bringen und damit eine Ikonisierung aufzubrechen. Parallel dazu nutzte sie literarische Vorlagen und Stoffe der Weltliteratur, wie der Golem, der Kaufmann von Venedig oder die Ringparabel in Nathan der Weise, um sich mit literarischen Mitteln für eine kulturelle Völkerverständigung einzusetzen. Mit ihrem aktuellen Roman Nathan und seine Kinder, der aus unterschiedlichsten Figuren-Perspektiven historische Quellen lebendig macht und dabei immer das Gegenwärtige im Blick behält, wirbt Mirjam Pressler für die wohl zentralste Frage unserer Zeit: religiöse Toleranz.
Sonderpreisjury 2010
Dr. Roswitha Budeus-Budde (Vorsitz)
Prof. Dr. Otto Brunken
Robert Elstner
SONDERPREIS ÜBERSETZUNG 1994
Die Kinderliteratur in Deutschland kann sich glücklich schätzen, durch die Beiträge einer Reihe hervorragender Übersetzerinnen und Übersetzer bereichert zu werden. Wie wichtig diese für die Entwicklung der Kinderliteratur sind, sieht man nicht zuletzt an den heute ausgezeichneten Büchern: Es handelt sich ausnahmslos um Übersetzungen. Übersetzerinnen und Übersetzer von Kinderliteratur arbeiten oft im Verborgenen, eher selten werden ihre Taten ausreichend gewürdigt. Nun ist zum ersten Mal in Deutschland ein Preis gestiftet worden, der auf ihre sprachliche und literarische Leistung aufmerksam macht. Es gehört zum Wesen einer Preisvergabe, dass immer leider nur eine oder einer ihn erhalten kann. Die Entscheidung für das Gesamtwerk einer Übersetzerin oder eines Übersetzers heißt deshalb auch, dass viele, die eine solche Anerkennung ebenfalls verdient hätten, leer ausgehen müssen.
Mit der Arbeit von über zwanzig Übersetzerinnen und Übersetzern hat sich die dreiköpfige Jury näher beschäftigt. Wir sich dabei nach den folgenden Kriterien vorgegangen:
1. ein umfangreiches Gesamtwerk von niveauvollen Übersetzungen im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur,
2. ein möglichst breites Spektrum von Gattungen und Textsorten für verschiedene Adressaten innerhalb der Kinder- und Jugendliteraturleserschaft, z.B. Bilderbücher, Erstlesebücher, Kinderromane, Jugendromane, Sachbücher usw.,
3. die Erschließung von neuen Gattungen oder in Deutschland noch unbekannten Literaturen. Es spielt also nicht nur die sprachliche sondern auch die literarische und kulturelle Leistung einer Übersetzerin/ eines Übersetzers eine Rolle.
4. Die sprachlich ästhetische Qualität der Übersetzungen.
Mirjam Pressler, die wir für ihr Gesamtwerk als Übersetzerin ausgezeichnet haben, erfüllte alle diese Kriterien in hervorragender Weise. Sie hat mit ihren Übersetzungen die deutsche Kinder- und Jugendliteratur um eine bedeutende Anzahl von Texten höchster Qualität bereichert, die als literarische Eigenleistung durch diese Preisverleihung gewürdigt werden. Sie hat den deutschen Lesern die israelische Kinder- und Jugendliteratur erschlossen, und für den niederländisch-flämischen Sprachraum sind es gerade Presslers Übersetzungen aus den letzten zehn Jahren, die dazu beigetragen haben, dieser Literatur die verdiente Anerkennung zu verschaffen.
Mirjam Pressler wurde 1940 in Darmstadt geboren; sie studierte Kunst und Sprachen in Frankfurt und München und lebte einige Zeit in einem Kibbuz in Israel. Ihre Laufbahn als Autorin und Übersetzerin fängt mit einer Kündigung an. 1979 wurde ihr nämlich der Jeansladen gekündigt, mit dem sie den Lebensunterhalt für sich und ihre drei Töchter verdient hatte – eine der glücklichsten Kündigungen für die deutsche Kinder- und Jugendliteratur, wie sich herausstellte, denn ihr neues Arbeitsfeld war das einer Autorin und Übersetzerin. 1983 bot man ihr die Bearbeitung einer Rohübersetzung aus dem Niederländischen an, einer Sprache, die sie bis dahin nach eigener Auskunft noch nicht beherrschte. Mithilfe eines Wörterbuchs und einer Grammatik machte sie sich ans Werk. Der Pavianhönzg von Anton Quintana, eine ihrer ersten Übersetzungen, landete sofort auf der Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis. Unorthodoxer kann man sich den Beginn einer Karriere als Literaturübersetzerin kaum vorstellen. Das war die erste von vielen Auszeichnungen: 1986 war sie als Obersetzerin von EIs Pelgroms Die wundersame Reise der kleinen Sophie und 1988 von Joke van Leeuwens Deesje macht das schon am Jugendliteraturpreis beteiligt. Und auch dieses Jahr hat sie – zusammen mit Rund van der Rol und Rian Verhoeven – an einem der ausgezeichneten Bücher mitgewirkt: an dem Jugendsachbuch Anne Frank.
Mit Anne Frank befasste sich Mirjam Pressler lange und intensiv, was schließlich zur Neuübersetzung der Tagebücher für eine erweiterte kritische Ausgabe führte. Dabei werden dem deutschen Lesepublikum zum ersten Mal auch die Stellen der Tagebücher präsentiert, die Annes Vater gekürzt hatte; dies und der einem jungen Mädchen angepasstere umgangsprachliche Ton der Übersetzung öffnet den Weg für eine neue Anne Frank-Rezeption in Deutschland.
1990 trat der Alibaba Verlag an Mirjam Pressler heran und bat sie, als Herausgeberin und Übersetzerin ausgewählter Kinder- und Jugendbücher aus Israel tätig zu werden. In ihrem Eröffnungsvortrag für die Ausstellung „Begegnung mit Israel" im Literaturhaus Wien vor ein paar Monaten sprach Mirjam Pressler über die besondere Wichtigkeit dieser Übersetzungen: „Wo, wenn nicht in Übersetzungen – besonders aus der israelischen Literatur – können deutschsprachige Kinder und Jugendliche eine entkrampfte Begegnung mit Juden haben, mit Juden, die weder auf dem Sockel stehen, noch irgendwelche ganz besonderen' Menschen sind?". Zur besonderen Leistung der Übersetzerin und Vermittlerin Mirjam Pressler gehört, dass junge deutsche Leser Bekanntschaft nun auch mit liebenden, streitenden, traurigen, komischen, neugierigen, glücklichen, eifersüchtigen, großzügigen usw. Juden machen können. Sie sorgt mit ihren Übersetzungen von Autoren wie David Grossman, Amos Oz, Nira Harel, Ruth Almog, Uri Orlev, Nurit Zarchi und anderen dafür, daß diese Literatur jetzt in einer faszinierenden Bandbreite in Deutschland zugänglich ist, wodurch vielleicht die von ihr erhofften entkrampften Begegnungen' möglich werden können.
Seit 1983 hat Mirjam Pressler weit über 100 Bücher für Kinder und Jugendliche aus dem Niederländisch-Flämischen, Hebräischen, Afrikaans und Amerikanischen übersetzt. Ihre Themenvielfalt ist beeindruckend. Historische Ereignisse - etwa der Aufstand im Warschauer Ghetto in Uri Orlevs Der Mann von der anderen Seite, oder der Holocaust, eindringend, beklemmend und poetisch in Ida Vos' Tanzen auf der Brücke von Avignon, -
Adoleszenzprobleme und Kinderalltag gehören ebenso zu den von ihr bearbeiteten Themen wie alltäglicher Rassismus, Erfahrungen aus lernen Ländern oder die Darstellung der schwierigen Beziehung zwischen Mutter und Tochter in Gila Almagors Sommer von
Aviha. Beeindruckend sind bei Mirjam Pressler das breite Spektrum literarischer Gestaltungsmittel, über das sie verfügt, und die scheinbare Leichtigkeit, mit der sie von einer Gattung in die nächste wechselt: von einer tiefgründigen Erstlesegeschiehte wie Wo ist Mia? von Bart Moevaert über einen komisch-phantastischen Kinderroman wie Joke van Leeuwens Deesje macht das schon bis hin zu einem introspektiven Adoleszenzroman wie Ed Francks Gegenwind.
Sie gestaltet immer von neuem Erzählstimmen, die glaubhaft sind, und beweist damit eine erstaunliche Variabilität. Mit einer Palette von sprachlichen Registern charakterisiert sie Protagonistinnen und Protagonisten in den verschiedenen Lebensstadien und an unterschiedlichen Orten: sie meistert die schlichte und eindringliche Sprache in Liva Willems' Südamerika-Erzählung Manchmal bin ich ein Jaguar und zeigt sich der humorvoll-lakonischen Ich-Erzählung in Selma Noorts Künstler Wilhelmus Poot küßt seine Enkelin oder der teils komisch-ironischen teils wehmütigen Erzählstimme in Amos Oz' Sumchi ebenso gewachsen wie den stilistischen Feinheiten von Bart Moevaerts symbolisch-poetischer Novelle Küss mich. Durch die Stimmenvielfalt, die Presslers Übersetzungswerk kennzeichnet, bewahrt jedes von ihr übersetzte Buch seine Unverwechselbarkeit.
Sonderpreisjury 1994
Dr. Jürgen Martini
Dr. Emer O'Sullivan
Nina Schindler