Rolf Erdorf
Jurybegründung
Rotraut Susanne Berner hat mit ihrem künstlerischen Werk neue Maßstäbe der Illustration und Gestaltung gesetzt und dabei eigene Vorstellungen verwirklicht. Sie hat in oftmals überraschender Form den Dingen, den Geschichten, den Gedichten eine eigene Prägung verliehen. Man könnte geradezu von einem Rotraut-Susanne-Berner-Stil sprechen, der Schule macht bzw. bereits gemacht hat. Zu illustrierende Texte behandelt sie partnerschaftlich: Wörter werden zu Bildern, Bilder zu Wörtern. In unterschiedlicher Form gelingt es ihr, über alle Grenzen hinweg, Phantasie mit realistischer Darstellung zu verbinden, sodass Weiterdenken, Weiterspielen und Dabeisein möglich werden. Dafür ist ihr zu danken.
Rotraut Susanne Berner ist eine Künstlerin, die hohe Ansprüche an ihre Arbeit stellt und niemals den bequemen Weg wählt. Die Leichtigkeit ihrer Bilder ist gewiss nicht leicht erworben. Mit ihren Einfällen hält sie die Welt in Bewegung; denn was sie zeichnet braucht sozusagen wie auf wunderbare Weise keine Schwerkraft. Ihr assoziativer Zeichenstil lässt Figuren tanzen, Häuser schweben, Fische fliegen. Mit schräg gestellten Flächen, perspektivisch verschobenen Räumen gelingt ihr eine originelle Bilderwelt, in der das Große klein und das Kleine groß sein darf. So entstehen beim Anschauen und Nachvollziehen ihrer Bilder Geschichten eigener Art.
Ihre Buchausstattungen - immerhin handelt es sich mittlerweile um ca. 150 Titel - sind auch in technischer Hinsicht, beeindruckend: Zarte Federzeichnungen, Pinselzeichnungen, kolorierte randbetonte Bildtafeln, Linolschnitte, Stempelbilder. Und eben auch die selten benutzte Technik der Flachdruckgrafik. (Hierbei wird direkt auf den Film gezeichnet, erst der Druck ergibt das Original.) Stets gilt dabei ihre Sorgfalt dem Buch als ganzes - Typografie, Satzspiegel, Gestaltung tragen deutlich ihre Handschrift.
Ihr Werk ist vielfältig. Man fragt sich, wie es ihr gelingt, vom einfachen Linearen, das mitunter auch naiv wirken kann, überzugehen in philosophisch anmutende Darstellungen, die geheimnisvoll bleiben, je länger man sie anschaut.
Langes Anschauen erfordert auch der große Bilderroman ihrer Wimmelbilder; darin ist Menschenleben in den vier Jahreszeiten abgebildet: Eine lesbare Ereignisfolge der einfachen und doch der besonderen wie heiteren Art. Hier fügen sich unzählige Kleinstszenen wie in einem fortlaufenden Film zum Großereignis. Schon in ihrem ersten eigenen Bilderbuch (Das Abenteuer) reiht sie Einzelszenen aneinander. Als Handlungsträger braucht sie dazu nur einen Ball, der immer weiter läuft und fliegt. Oder einen Hut (Der fliegende Hut) oder lustiges Verstecken (Wo ist Karlchen?). Dabei handeln Tierkinder (Katzenkind, Hasenkind) als Hauptpersonen. Alle diese einfachen bildnerischen Aktionen, meist von kleinen Texten begleitet, sind für kleine Kinder eine wunderbare Schule der Phantasie.
Anders die genauen, dabei magisch-bildnerischen Aufklärungen im Zahlenteufel (von Hans Magnus Enzensberger), wo der gestaltgewordene Zahlengeist an den aufklärenden Sprachgeist Küslübürtün in Franz Fühmanns großem Sprachbuch erinnert. Hier zeigt sich besonders die große Spannweite der Bernerschen Bilderwelt.
Rotraut Susanne Berner versucht sich in immer neuen Formen und Techniken. Ihre originalen Flachdruckgrafiken zu den von Jürgen Schöntges gesammelten Liedern, atmen heute noch, Jahre nach ihrer Entstehung, Spontaneität und Selbstvertrauen. Und, viele Jahre später, die Märchen der Brüder Grimm als Bildgeschichten mit Sprechblasen, diese gewagte Verkürzung - da ist zu sehen, wie Daumesdick, von der Kuh gefressen, in ihren Magen wandert: "Huch! Wo bin ich?"
Ferner die einfallsreichen Illustrationen zu den Hausbüchern des Gerstenberg Verlags (Dunkel war's, der Mond schien helle und Apfel, Nuss und Schneeballschlacht). Und wenn man über den Tellerrand der Kinderliteratur hinausschaut, findet man Rotraut Susanne Berner in vielerlei Gestalt: Illustrationen zu Einbänden aller Art, auch die kühnen Bilder in den von Armin Abmeier herausgegebenen Tollen Heften, darunter das von ihr selbst komponierte Heft mit Leib- und Magengedichten.
Sicher ist ihr auch mit der Nonsens-Anthologie Schmurgelstein so herzbetrunken (von Hans A. Halbey schön ins Spiel gebracht) eine unglaublich geschmurgelte Bilderwelt gelungen, herzbetrunken eben. Auch die Mondschein-Märchen und die Märchensammlung Blaue Prinzen vermitteln große Zauberwelt im Kleinen. Sie kann aber auch anders. Ihre Zeichnungen zu Charles Bukowski zum Beispiel. Oder eben auch ihre rätselhaften Farbtafeln zu dem wiederentdeckten Roman Die Zauberlaterne von Wolfheinrich von der Mülbe. Dann der Wechsel ins realistische Fach: die Porträtzeichnungen (mit Feder und zweiter Farbe) zur Geschichte der deutschen Literatur (von Manfred Mai), eigentlich ganz und gar nicht ihr Metier und dennoch erstaunlich nahebei. Auch auf diese Weise gelingt es ihr, das Typische herauszufinden.
Ein Höhepunkt ihrer Illustrationskunst sind ohne Zweifel ihre Bilder zu den Geschichten von Jürg Schubiger. Sie selbst erklärt: "Seine Texte sind gleichzeitig spröde und voller Gefühl, sie schlagen Haken, sind melancholisch und witzig zugleich, genau und voller Respekt, sie kennen keine Tabus und sind dennoch vorsichtig: das alles ist offenbar ein idealer Mal- und Zeichengrund für mich."
Ihre poetische Zuneigung gehört auch den Geschichten von Toon Tellegen; seinem skurril-verzückten Vater-Sohn-Buch Josefs Vater widmet sie eine zauberhafte, fliegende Bilderwelt. Diese und andere Texte sind also für sie die eigentliche Herausforderung, die sie immer wieder sucht. In den anspruchsvollen Schubiger-Bildern könnte man übrigens einen Hauch von ihrem Vorbild Jiri Salamoun vermuten. Und wenn schon von Vorbildern die Rede ist - auch an Walter Trier sei erinnert; Rotraut Susanne Berner wird es gern bestätigen.
Von Saul Steinberg gibt es den schönen Satz: "Man zeichnet nicht gut, wenn man lügt." Alle ihre Bilder sagen die Wahrheit.
Sonderpreisjury 2006
Hans-Joachim Gelberg
Prof. Dr. Maria Linsmann-Dege
Gisela Stottele
Bücher
Bibliografie
Eine umfangreiche Bibliografie zu den übersetzungen Rolf Erdorfs finden Sie als Download hier.
Auswahl
Cock, Michael de: Rosie und Moussa. Der Brief von Papa. Illustriert von Judith Vanistendael. Weinheim: Beltz & Gelberg 2014.
Heesen, Martha: Die Nacht, als Mats nicht heimkam. Düsseldorf: Sauerländer 2005.
Kunst, Marco: Flieg! Illustriert von Philip Hopman. Hildesheim: Gerstenberg 2014.
Leeuw, Jan De: Babel. Stuttgart: Freies Geistesleben 2018.
Leeuw, Jan De: Eisvogelsommer. Hildesheim: Gerstenberg 2016.
Leeuw, Jan De: Dr. Linda, Schrödinger und eine Leiche im Kühlhaus. Hildesheim: Gerstenberg 2010.
Reek, Wouter van: Krawinkel und Eckstein. Die Rettungsaktion. Düsseldorf: Sauerländer 2006.
Samson, Gideon: Doppeltot. Hildesheim: Gerstenberg 2015.
Samson, Gideon: Der Himmel kann noch warten. Münster: Coppenrath 2010.
Sassen, Erna: Keine Form, in die ich passe. Stuttgart: Freies Geistesleben 2018.
Sassen, Erna: Das hier ist kein Tagebuch. Stuttgart: Freies Geistesleben 2015.
Sterck, Marita de: Unbewohntes Herz. Hamburg: Oetinger 2013.
Sterck, Marita de: Morgen, wenn Frieden ist. Düsseldorf: Sauerländer 2006.
Sy, Astrid: Nenn keine Namen. Hildesheim: Gerstenberg 2023.
Timmers, Leo: Das liebe Krokodil. Zürich: aracari 2022.
Timmers, Leo: Was Herr René so alles malt. Berlin: Schaltzeit 2018.
Veerkamp, Marc: Bär ist nicht allein. Illustriert von Jeska Verstegen. Stuttgart: Freies Geistesleben 2023.
Vendel, Edward van de / Elman, Anoush: Mischka. Stuttgart: Thienemann 2023.
Vendel, Edward van de: Der kleine Fuchs. Illustriert von Marije Tolman. Hildesheim: Gerstenberg 2019.
Vendel, Edward van de: Der Hund, den Nino nicht hatte. Illustriert von Anton van Hertbrugge. Münster: Bohem Press 2015.
Vendel, Edward van de: Lena und das Geheimnis der blauen Hirsche. Illustriert von Mattias De Leeuw. Hildesheim: Gerstenberg 2014.
Vendel, Edward van de: Was ich vergessen habe. Hamburg: Carlsen 2004.
Verroen, Dolf: Wie schön weiß ich bin. Wuppertal: Peter Hammer 2005.
Verroen, Dolf: Traumopa. Illustriert von Charlotte Dematons. Stuttgart: Freies Geistesleben 2021.
Verroen, Dolf: Josefinchen Mongolinchen. Illustriert von Birte Müller. Stuttgart: Freies Geistesleben 2006.
Zwigtman, Floortje: Ich, Adrian Mayfield. Hildesheim: Gerstenberg 2008.
Zwigtman, Floortje: Wolfsrudel. Hildesheim: Gerstenberg 2006.